Experiment Heimat
HEIMAT – eine Emotion oder ein Ort? Eine Realität oder ein Ideal? Ist sie dort, wo wir geboren oder aufgewachsen sind? Oder hier, wo wir jetzt leben? Verändert sich HEIMAT im Laufe des Lebens? Oder existiert sie vielleicht überhaupt nicht (mehr)? Ist sie ein unausweichliches Schicksal oder etwas, das man sich selbst schafft? Eine erstrebenswerte Utopie oder ein Reizwort und Kampfbegriff? Gibt es nur eine HEIMAT oder gibt es sie auch im Plural? Und wie halten es andere Sprachen und Kulturen mit diesem urdeutschen Wort? Mögliche Antworten auf diese und viele weitere Fragen stellt das Literatur- und Fotografie-Projekt Experiment HEIMAT ins Zentrum einer künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Begriff der HEIMAT.
Das Experiment HEIMAT begreift sich als künstlerischer Versuch. Renommierte Autor*innen und Fotograf*innen setzen sich im Zeitraum 2021-2022 mit bereits als HEIMAT etablierten Räumen oder aus bestimmter Perspektive „heimatlich“ konnotierten Orten in Westfalen künstlerisch auseinander. Als Ergebnis entstehen ein Text-Foto-Band und eine Wanderausstellung. Ein breit gefächertes Begegnungs- und Veranstaltungsprogramm sowie eine wissenschaftliche und journalistische Begleitung ergänzen das Vorhaben und bieten zusätzliche Perspektiven darauf, was HEIMAT heute ist oder sein könnte.
Auf Spurensuche an ausgewählte HEIMAT-Orte begeben sich ab dem Frühjahr 2021 die Autor*innen Helene Bukowski, Safiye Can, Nora Gomringer, Lütfiye Güzel, Sabrina Janesch, Wladimir Kaminer, Sharon Dodua Otoo und Najem Wali zusammen mit den Fotograf*innen Peter Bialobrzeski, Jörg Brüggemann, Alem Kolbus, Ute Mahler, Werner Mahler, Loredana Nemes, Christina Stohn, Nikita Teryoshin und Aleksandra Weber. Ihre Recherchen führen sie an die Ruhr-Universität Bochum, zum Hermannsdenkmal und in den Teutoburger Wald bei Detmold, in die Widukind-Stadt Enger, an die ehemaligen Arbeits- und heutigen Freizeitorte Henrichshütte Hattingen und Schiffshebewerk Henrichenburg, zu den historischen Stätten Wilzenberg im Sauerland und Kolvenburg im Kreis Coesfeld, zur Fußballkultur in Dortmund und an den Genuss- und Kulturort Lindenbrauerei in Unna.
Weiterstöbern: https://www.experimentheimat.de
Dortmund: Fußballkultur
Vom 26. bis 31. Mai 2021 kommen die Autorin Helene Bukowski und der Fotograf Jörg Brüggemann zur Heimat-Recherche nach Dortmund. Dortmund, Fußball und Heimat ist ihr Thema, oder kurz: Dortmund – dem Fußball seine Heimat. Eigentlich sollte die Fülle des Dortmunder Fußballs besucht werden, aber durch Corona fehlt diese plötzlich. Und genau unter diesen gegebenen Umständen werden die beiden über das Fehlen des Fußballs berichten und damit vom Fehlen der Heimat, die der Fussball für viele hier bedeutet. Selbstverständlich findet Fußball immer statt, aber im Moment eben nicht wie sonst im Verein und am Wochenende auf’m Platz.
Wie gehen die Menschen damit um, dass sie nicht mehr ins Stadion kommen? Was macht es mit den Fussballfeldern, wenn sie seit Monaten kein Stollenschuh mehr betritt? Und wie steht es um den Zusammenhalt der Nachbarschaft, wenn sich keiner mehr in der Eckkeipen über Fußball unterhalten kann und keine Gespräche in der Umkleide nach dem Training mehr stattfinden? Findet der Fußball dadurch vielleicht sogar zurück zu seiner alten Heimat – auf die Straße?
Dortmund – dem Fußball seine Heimat
„Im Herzen bin ich bin immer noch Fußballerin,” sagte die Ende-30-Jährige im Tremoniapark als sie die Kinder auf der Wiese bolzen sah. „Naja, nicht mehr aktiv, aber der Fußball hat mein Denken und Handeln geprägt. Vermutlich fühle ich mich deshalb in Dortmund so zu Hause. Irgendwie sind die Menschen hier wie ich.”
Dortmund. Fußball. Heimat?
Ein Rückblick: Ende des 19. Jahrhunderts wurde Dortmund durch die enorme Zuwanderung von Arbeitskräften und deren Familien im Zuge der Industrialisierung eine Großstadt. Fand die Industrie bis 1870 noch Arbeitskräfte aus der näheren Umgebung, so mussten dann Menschen aus weiterer Entfernung – zum Beispiel Polen, England und Frankreich – für die Zechen und Eisenwerke angeworben werden. Ihr Anteil an Einwohnern lag um die Jahrhundertwende bei 34 Prozent. Dortmund wuchs somit kräftig. Richtung Norden und Osten entstanden planmäßig ganze Stadtteile mit passenden Prachtplätzen wie dem Nordmarkt, Steinplatz und Borsigplatz.
1890 kam etwa zeitgleich der englische Fußball nach Dortmund. Die aus bürgerlichen Familien stammenden Schüler des Realgymnasiums und des Tremonia-Gymnasiums waren die ersten Spieler in dieser Stadt. 1895 gründeten sie zusammen mit Absolventen der Königlichen Maschinenbauschule in der Sonnenstraße den ersten Dortmunder Fußball-Club.
Nach der Jahrhundertwende folgten eine Reihe weiterer Fußballklubs, die aber nach wie vor eher bürgerlich und elitär waren. Erst langsam entstanden auch Clubs in den Arbeiterkreisen, zum Beispiel der TuS Bövinghausen, der 1904 von Arbeitern der Zeche Zollern gegründet wurde. Für die vielen Einwanderer waren solche Zechenmannschaften die Möglichkeit, soziale Kontakte zu knüpfen und anzukommen, Heimat zu finden.
Erst in den 1920er Jahren wurde Fußball zu einem Massenphänomen: Soldaten brachten den Sport aus dem 1. Weltkrieg mit. Durch den hart erkämpften Acht-Stunden-Tag hatten Arbeiter nun auch die nötige freie Zeit zum Spielen und Zuschauen. Arbeiterklubs schlossen zu den bürgerlichen Vereinen auf. Jetzt wurde überall auf Straßen und Plätzen gebolzt. Der Mythos des Arbeiterfußballs entstand.
Insbesondere auf den Bolzplätzen zeigte sich, was der Fußball alles vermag: Auf dem Platz sind alle gleich, alle können mitspielen und nur gemeinsam kann man das Spiel gewinnen. Zudem können Außenseiter plötzlich zu Helden werden, es gibt Lob und Anerkennung für das Tor, den Pass oder die gelungene Aktion und das alles funktioniert ohne Sprache.
Es verwundert daher nicht, dass auf Antrag des Deutschen Fußballmuseums die Bolzplätze in die Liste des immateriellen Kulturerbes des Landes NRW aufgenommen wurden. Der Bolzplatz ist schon seit den 1920er Jahren ein bedeutsamer Sozialraum, der neben dem Können ebenso Kreativität, Fairness, Toleranz und Vielfalt fördert.
Und weil der Fußball integriert, Identität, Kultur und Heimat schafft und er ebenso auf den wichtigen Tugenden der Bergleute und Stahlarbeiter wie Verlässlichkeit, Offenheit und Zusammenhalt basiert, hat der Fußball in Dortmund seine Heimat. Die Mentalität des Fußballs ist das, was die Menschen in dieser Stadt leben und im Herzen tragen, ist das, was sie vereint – unabhängig woher sie kommen und welche Sprache sie sprechen.
Helene Bukowski | Autorin
Helene Bukowski, geboren 1993 in Berlin, lebt heute wieder in ihrer Geburtsstadt. Sie studierte Literarisches Schreiben und Lektorieren in Hildesheim. Helene Bukowski ist Co-Autorin des Dokumentarfilms „Zehn Wochen Sommer“, der 2015 den Grimme Sonderpreis Kultur erhalten hat, und war 2016 zur Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin eingeladen.
Sie war Mitherausgeberin der „BELLA triste“ und Teil der künstlerischen Leitung des „PROSANOVA 17“. 2019 erschien ihr Debütroman „Milchzähne“, für den sie u.a. für den Mara-Cassens-Preis, den Rauriser Literaturpreis und den Kranichsteiner Literaturförderpreis nominiert war. Darin beschreibt Helene Bukowski eindrücklich ein düsteres Zukunftsszenario, in dem es um Fremde und Zugehörigkeit geht – also (auch) um HEIMAT. In ihrer HEIMAT-Stadt Berlin gründete Helene Bukowski eine Fußball-Nationalmannschaft der Autor*innen.
Der Rasensport wird sie auch bei ihrer Recherche in Dortmund beschäftigen. Hier geht sie der Frage nach, inwieweit Fußball für die Menschen HEIMAT bedeuten kann und was passiert, wenn der Fußball nicht mehr da ist.
https://www.aufbau-verlag.de/index.php/milchzahne.html
https://www.perlentaucher.de/buch/helene-bukowski
Jörg Brüggemann | Fotograf
Jörg Brüggemann, geboren 1979 in Herne, lebt heute in Berlin. Er schloss 2008 sein Fotografie-Studium an der Hochschule für Künste in Bremen mit der Diplomarbeit „Same Same But Different“ über Rucksacktourismus in Südasien ab. Seit 2009 ist er Mitglied der Agentur OSTKREUZ in Berlin und dort seit 2019 auch als Geschäftsführer tätig. Im selben Jahr wurde er auch Dozent an der OSTKREUZSCHULE für Fotografie.
Der Fotograf arbeitet u.a. für internationale Magazine wie ZEIT Magazin, GEO, Monocle und wurde mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet u.a. gemeinsam mit seinen OSTKREUZ-Kolleg*innen mit dem Konrad-Wolf-Preis der Akademie der Künste (2013).
Für seine erste 2012 erschienene Monografie „Metalheads – The Global Brotherhood“ über die Globalisierung der Heavy-Metal-Kultur reiste er durch die Kontinente. 2020 veröffentlichte Jörg Brüggemann gemeinsam mit Tobias Kruse „Freundschaft“ und die Monografie „Autobahn“. Im September 2020 eröffnete er seine erste Einzelausstellung „wie lange noch“ im Zephyr Mannheim.
In Dortmund widmet sich Jörg Brüggemann dem Thema Fußball als HEIMAT und dem Fehlen von Fußball.
https://www.joergbrueggemann.com
Das Experiment HEIMAT wurde konzipiert und wird hauptverantwortlich organisiert vom Westfälischen Literaturbüro in Unna e.V. Das Projekt wird gefördert vom Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes NRW und begleitet vom Westfälischen Heimatbund. Für die künstlerische Beratung und Kuratierung konnte der renommierte Fotograf und Professor an der Hochschule für Künste Bremen, Peter Bialobrzeski, gewonnen werden.
Das Projekt wird in Kooperation mit den folgenden lokalen Partnern durchgeführt: